BSG: Aufklärungsmangel kann Abrechenbarkeit der stationären Behandlung entgegenstehen

Eine inter­es­san­te Rechts­fra­ge hat­te das Bun­des­so­zi­al­ge­richt im Ver­fah­ren B 1 KR 20/19 R zu ent­schei­den (Urteil vom 19.3.2020). Es ging um die Fra­ge, wel­che Aus­wir­kun­gen eine man­gel­haf­te Auf­klä­rung des Pati­en­ten auf die Abre­chen­bar­keit der sta­tio­nä­ren Behand­lung gegen­über der Gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung hat. Das Rechts­pro­blem ran­giert damit an der Schnitt­stel­le von Arzt­haf­tungs­recht und dem Recht der sta­tio­nä­ren Abrech­nung. Bei­de Rechts­ge­bie­te sind Schwer­punk­te unse­rer Kanz­lei, so dass die Ent­schei­dung des BSG auf beson­de­res Inter­es­se stößt und auf­hor­chen lässt.

Aufklärung ist Pflicht aus Behandlungsvertrag

Die Pflicht zur ord­nungs­ge­mä­ßen Auf­klä­rung folgt unter ande­rem aus dem Behand­lungs­ver­trag, den der Pati­ent mit dem Kran­ken­haus­trä­ger schließt. Die recht­li­che Anknüp­fung fin­det sich in § 630e BGB. Zusam­men­fas­send ver­langt die ver­trag­li­che Auf­klä­rungs­pflicht, den Pati­en­ten so auf­zu­klä­ren, dass er selbst­be­stimmt eine infor­mier­te Ein­wil­li­gung in Behand­lung abge­ben kann. Die not­wen­di­ge Tie­fe und der zeit­li­che Vor­lauf folgt aus dem Risi­ko und der Dring­lich­keit der Behand­lung. Das höchs­te Auf­klä­rungs­ni­veau muss dabei bei ästhe­ti­schen Behand­lun­gen gewahrt sein, die nicht medi­zi­nisch indi­ziert sind. Hier muss scho­nungs­los über alle in Betracht kom­men­den Risi­ken auf­ge­klärt wer­den. Bei einer gewöhn­li­chen Behand­lung genügt die Auf­klä­rung über die Risi­ken und Chan­cen „im Gro­ßen und Ganzen“.

Neben der ver­trag­li­chen Anknüp­fung folgt die Auf­klä­rung auch aus dem ärzt­li­chen Berufs­recht, das ver­gleich­ba­re Ver­pfli­chun­gen beinhaltet.

BSG: Aufklärung ist wesentliche Voraussetzung für den Vergütungsanspruch im Krankenhaus
Eine unzu­rei­chen­de Auf­klä­rung kann wegen des Wirt­schaft­lich­keits­ge­bo­tes zum Aus­schluss der Kran­ken­haus­ver­g­tung führen

BSG: Vergütungsanspruch setzt voraus, dass der Versicherte informiert in die Behandlung einwilligt

Das BSG stellt nun­mehr fest, dass die Auf­klä­rung des Ver­si­cher­ten auch für den Ver­gü­tungs­an­spruch rele­vant ist. Das Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot steht ggf. einer Ver­gü­tung ent­ge­gen, wenn nicht fest­steht, dass der Ver­si­cher­te eine hin­rei­chend selbst­be­stimm­te Ent­schei­dung getrof­fen hat, sich also auch durch­aus gegen die Behand­lung hät­te ent­schei­den können:

[…] Im Recht der GKV dient [die Auf­klä­rung] aber auch der Wah­rung des Wirt­schaft­lich­keits­ge­bots (§ 12 Abs 1 SGB V) und hat inso­fern Aus­wir­kun­gen auf den Ver­gü­tungs­an­spruch des Kran­ken­hau­ses. Das Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot erfor­dert, dass der Ver­si­cher­te die Ent­schei­dung für die Inan­spruch­nah­me der Leis­tung auf der Grund­la­ge von aus­rei­chen­den Infor­ma­tio­nen trifft. Die Auf­klä­rung muss dem Ver­si­cher­ten die Span­ne denk­ba­rer Ent­schei­dun­gen auf­zei­gen, sodass ihm Für und Wider der Behand­lung bewusst sind und er Chan­cen und Risi­ken der jewei­li­gen Behand­lung selbst­be­stimmt abwä­gen kann. Denn im Sach­leis­tungs­sys­tem ent­schei­det letzt­lich der Ver­si­cher­te, ob er die ihm ärzt­lich ange­bo­te­ne, medi­zi­nisch not­wen­di­ge Leis­tung abruft. Von einer ord­nungs­ge­mä­ßen Auf­klä­rung kann bei objek­tiv medi­zi­nisch erfor­der­li­chen Behand­lun­gen im Sin­ne einer wider­leg­ba­ren Ver­mu­tung regel­mä­ßig aus­ge­gan­gen wer­den. Das gilt jedoch nicht, wenn mit der in Rede ste­hen­den Behand­lung ein hohes Risi­ko schwer­wie­gen­der Schä­den, ins­be­son­de­re eine hohes Mor­ta­li­täts­ri­si­ko ver­bun­den ist. In die­sen Situa­tio­nen ist regel­mä­ßig nicht aus­zu­schlie­ßen, dass der Ver­si­cher­te bei ord­nungs­ge­mä­ßer Auf­klä­rung von dem Ein­griff Abstand genom­men hät­te […]BSG, Urteil vom 19.3.2020, B 1 KR 20/19 R, Rn. 35

Das Gericht knüpft dabei an die Maß­ga­ben der zivil­recht­li­chen Auf­klä­rungs­pflich­ten und die hier­zu ergan­ge­ne Recht­spre­chung an (BSG, a.a.O., Rn. 36). Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt sieht die Beweis­last für die ord­nungs­ge­mä­ße Auf­klä­rung auf Sei­ten des Kran­ken­au­ses, stellt aber zugleich fest, dass an die­se kei­ne über­zo­ge­nen Anfor­de­run­gen gestellt wer­den dür­fen (Rn. 37). Mit der Recht­spre­chung des BGH sieht auch das BSG, dass der unter­zeich­ne­te Auf­klä­rungs­bo­gen ledig­lich ein Indiz für den Inhalt des Auf­klä­rungs­ge­sprä­ches ist (Rn. 37). Das BSG lei­tet dar­aus ab:

Je grö­ßer das Mor­ta­li­täts­ri­si­ko und je gerin­ger oder zumin­dest unsi­che­rer die Erfolgs­aus­sich­ten der Behand­lung sind, des­to höhe­re Anfor­de­run­gen sind an den Nach­weis einer ord­nungs­ge­mä­ßen Auf­klä­rung zu stellen.

BSG, Urteil vom 19.3.2020, B 1 KR 20/19 R, Rn. 37

Kein „Immer-so-Beweis“ bei hochriskanten Eingriffen oder solchen, die nicht dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechen

Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt lei­tet aus alle­dem ab, dass dem Kran­ken­haus der „Immer-so-Beweis“, also das blo­ße Dar­le­gen, was man typi­scher­wei­se in bestimm­ten Fall­kon­stel­la­tio­nen vor­nimmt, dann ver­wehrt, ist wenn es sich um beson­ders risi­kan­te oder nicht all­ge­mei­nem Stan­dard ent­spre­chen­de Behand­lun­gen geht.

Bei einer nicht dem all­ge­mein aner­kann­ten Stand der medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­se ent­spre­chen­den Behand­lung im Grenz­be­reich zur expe­ri­men­tel­len Behand­lung und zudem hohem Mor­ta­li­täts­ri­si­ko bedarf es der kon­kre­ten Fest­stel­lung, dass, durch wen genau und wie das Kran­ken­haus den Pati­en­ten über die rele­van­ten Aspek­te der abs­trak­ten und der kon­­­­k­­ret-indi­­­vi­­­du­el­­­len Chan­cen, der Risi­ken und der Risi­ko­ab­wä­gung auf­ge­klärt hat […] Hier genügt es nicht, wenn das Kran­ken­haus nur dar­legt, was bei ihm übli­cher­wei­se geschieht. Soweit das the­ra­peu­ti­sche Zeit­fens­ter dies zulässt, muss hier­bei auch fest­ste­hen, dass der Pati­ent vor dem beab­sich­tig­ten Ein­griff so recht­zei­tig auf­ge­klärt wur­de, dass er durch hin­rei­chen­de Abwä­gung der für und gegen den Ein­griff spre­chen­den Grün­de sei­ne Ent­schei­dungs­frei­heit und damit sein Selbst­be­stim­mungs­recht in ange­mes­se­ner Wei­se aus­üben konnte […].

BSG, Urteil vom 19.3.2020, B 1 KR 20/19 R, Rn. 38

Dies ent­spricht der all­ge­mei­nen Dog­ma­tik der zivil­recht­li­chen Auf­klä­rung. Der Pati­ent darf gera­de noch nicht gefühlt im „Getrie­be“ des Kran­ken­hau­ses ein­ge­glie­dert sein, so dass er sich nicht mehr traut, nicht in die Behand­lung einzuwilligen.

Konsequenzen für die Praxis: Aufklärung prüfen lassen und gegebenenfalls rügen

Grund­sätz­lich soll­te im medi­zi­ni­schen All­tag Wert auf eine ord­nungs­ge­mä­ße Auf­klä­rung gelegt wer­den, um nicht nur haf­­tungs- und nun auch ver­gü­tungs­recht­li­chen Kon­se­quen­zen zu ent­ge­hen, son­dern auch um die Pati­en­ten­au­to­no­mie zu wah­ren. Ärz­te soll­ten daher im All­tag auf die Durch­füh­rung und Doku­men­ta­ti­on der Auf­klä­rung achten.

Einbindung der Aufklärungsprüfung in das Prüfverfahren

Je ris­kan­ter und je expe­ri­men­tel­ler eine Behand­lung ist, umso höher sind die Anfor­de­run­gen an die Auf­klä­rung und ihren Nach­weis. Daher soll­te der MDK im Rah­men der Ein­zel­fall­prü­fung stan­dard­mä­ßig einen Blick auf die Doku­men­ta­ti­on der Auf­klä­rung rich­ten. Ist die Doku­men­ta­ti­on über­haupt vor­han­den? War sie recht­zei­tig? Wur­de über ernst­haft in Betracht kom­men­de Alter­na­ti­ven auf­ge­klärt? Wur­de über beson­de­re Risi­ken auf­ge­klärt? Wur­de dar­über auf­ge­klärt, dass es sich nicht um eine Stan­dard­me­tho­de handelt?

Beson­de­re Rele­vanz ent­fal­tet die Recht­spre­chung bei Behand­lun­gen, die nicht als Stan­dard­be­hand­lung betrach­tet wer­den kön­nen. Ansatz­punk­te für Kran­ken­kas­sen und MDK-Prü­­fun­­gen sind daher ins­be­son­de­re neue Unter­­su­chungs- und Behand­lungs­me­tho­den (NUB) nach § 137c SGB V oder Behand­lun­gen, die nur als ulti­ma ratio betrach­tet wer­den kön­nen. Für die MDK-Prü­­fung erge­ben sich hier für Kran­ken­kas­sen neue Chan­cen, etwa­ige Rück­zah­lungs­an­sprü­che auf eine neue Stüt­ze zu stel­len. Immer­hin lei­tet das BSG den Weg­fall des Ver­gü­tungs­an­spruchs aus dem Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot (§ 12 Abs. 1 SGB V) her.

Beispielhafte Fallgruppen

Mög­li­che Fall­grup­pen könn­ten z.B. sein:

  • kon­ser­va­ti­ve Behand­lung kommt (noch) als ernst­haf­te Behand­lungs­al­ter­na­ti­ve in Betracht (z.B. bei Endo­pro­the­sen, inva­si­ven Schmerz­the­ra­pien usw.)
  • alle NUB, wenn her­kömm­li­che Stan­dard­be­hand­lung existiert
  • beson­ders hohes Risi­ko­pro­fil, z.B. bei baria­tri­scher Chir­ur­gie (Adi­­po­­si­­tas-Chir­ur­­gie)
  • Behand­lun­gen außer­halb des Fach­arzt­stan­dards, etwa beim Off-Label-Use oder beim indi­vi­du­el­len Therapieversuch

Gera­de bei nahe­lie­gen­den Fall­kon­stel­la­tio­nen soll­ten Kran­ken­kas­sen den MDK daher im Rah­men des Prüf­auf­tra­ges (auch) nach der ord­nungs­ge­mä­ßen Auf­klä­rung befragen.

Aufklärung der Aufklärung“ im Prozess

Pro­zes­su­al dürf­te inter­es­sant sein, wie die Sozi­al­ge­richt die Auf­klä­rungs­si­tua­ti­on ermit­teln. Das BSG (a.a.O., Rn. 42) sieht hier die zeu­gen­schaft­li­che Ver­neh­mung des auf­klä­ren­den Arz­tes neben der urkund­li­chen Aus­wer­tung als Mög­lich­keit. Natür­lich weiß jeder, der sich mit Kogni­­ti­ons- und Ver­neh­mungs­psy­cho­lo­gie beschäf­tigt, dass die tat­säch­li­che Erin­ne­rung an eine beruf­li­che All­tags­si­tua­ti­on Jah­re spä­ter sehr begrenzt sein dürf­te, so dass hier Erin­ne­rungs­lü­cken vor­lie­gen dürf­ten, die dann – wie auch im Arzt­haf­tungs­pro­zess – damit gefüllt wer­den, wie es sich wahr­schein­lich damals zuge­tra­gen haben könn­te. Eher an die Auf­klä­rung dürf­ten sich wohl noch die Pati­en­ten erin­nern, für die eine medi­zi­ni­sche Behand­lung eher ein sin­gu­lä­res Ereig­nis ist.

Wie die Sozi­al­ge­rich­te die Auf­klä­rungs­rü­ge der Kran­ken­kas­sen pro­zes­su­al behan­deln wer­den, bleibt jedoch abzuwarten.

Beratung und Vertretung im Bereich des Abrechnungsstreits

Als spe­zia­li­sier­te Kanz­lei beglei­ten wir die Rechts­ent­wick­lung im Bereich der sta­tio­nä­ren Abrech­nung mit gro­ßem Inter­es­se. Rechts­an­walt Dr. Krah­nert, zugleich auch Arzt, berät und ver­tritt Kran­ken­kas­sen bei der Rechts­ver­fol­gung vor den Sozi­al­ge­rich­ten mit gro­ßem Enga­ge­ment und Erfolg. Bei Rück­fra­gen und Gesprächs­an­lie­gen neh­men Sie ger­ne Kon­takt mit uns auf.

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